Mit Tradition in die Zukunft*

Einmal im Jahr läuft eine größere Gruppe Männer im verschiedensten Alter im schwarzen Anzug, mit Zylinder und Nelke im Knopfloch, in aller Herrgottsfrühe mit Blaskappelle durch Hohenwestedt und trifft sich danach - auch eher ungewöhnlich - zum Frühstück mit Spargel und Schinken. Was soll das eigentlich und wozu ist das gut? Vordergründig betrachtet trifft sich da eine Gruppe von Männern um im sportlichen Wettkampf fest zu stellen, wer denn der beste Schütze unter ihnen sei.

Eigentlich aber ging und geht es um etwas anderes, denn für den Zweck des Schießens sind viele Mitglieder der Gilde einfach zu schlechte Schützen. Was treibt die Mitglieder also frühmorgens auf die Straße und vormittags an den Spargelteller? Vielleicht hilft der Wahlspruch der Gilde weiter: „Einigkeit ist die Grundlage allen Gedeihens, Freundschaft ist die Grundlage des geselligen Vergnügens.“ Es geht also um geselliges Vergnügen und um Freundschaft und Einigkeit. Klingt ja mal nicht schlecht. In dem Zusammenhang ist es interessant, was das Ehrenmitglied Hans-Jürgen Jeß anlässlich seiner 60-jährigen Mitgliedschaft in der Gilde zu seinen Gildebrüdern gesagt hat: „Ich gehe gerne auf den Gildetag, das ist die einzige Veranstaltung, wo wir alten Knacker noch hingehen können.“ Klingt ganz witzig, trifft aber den Kern ganz gut. Am Gildetag feiern die Generationen miteinander und der Umgang untereinander ist von Respekt geprägt. 60 Jahre in der Gilde - alle Achtung, da fangen die jungen Mitglieder an zu rechnen ob sie das statistisch auch noch schaffen können. Dieser Respekt unter den Generationen wird seltener, Lebenserfahrung zählt in einer Gesellschaft, die sich permanent verändert nicht mehr viel. Was kann ein Lebensrat von jemandem wert sein, der nicht einmal einen iPod bedienen kann? Es gibt Dinge die sind deshalb so sympathisch, weil sie sich in der beschleunigten Gesellschaft von heute nicht verändern. Schwarzer Anzug, Zylinder und rote Nelke? War schon immer so - bleibt so - gut so.

Sieht vielleicht von außen ulkig aus, aber was bleibt einem an kulturellen Wurzeln, wenn man alleTraditionen über Bord wirft? Selbst wenn man alles das weglässt, was die Hohenwestedter Schützengilde mit den erwirtschafteten Beträgen im Laufe des Jahres Gutes tut, dann hätte die Gilde hier in Hohenwestedt trotzdem als Wahrer von Traditionen ihre Existenzberechtigung. Ich laufe jedenfalls gerne mit, auch wenn ich mich an die verdammte Krawatte nie gewöhnen werde. Der Zylinder ist super, gerade wenn es wieder mal regnet.

Oliver Ziehm
* Dieser Text erschien in der Rubrik „Ein paar Worte“ in den Hohenwestedter Nachrichten vom 16. Juni 2010.